„Ungefähr sechs Wochen nachdem die NATO die Bombenangriffe gegen Serbien eingestellt hatte, kam ich im August 1999 am Flughafen Pristina an. Ich sollte dort als „Coordinator for Print and Minority Media“ für das OSZE ’Department of Media Affairs’ arbeiten. Das Flugzeug von Wien nach Pristina war rappelvoll mit dem für das Kosovo abgestelltem Personal der OSZE, der EU und der UNO. Wie ich bald heraus finden sollte, waren dies also die berühmt-berüchtigten ’Internationals’, im Gegensatz zu den ‚Locals’, den im Kosovo Ortsansässigen. Als wir durch Pristina fuhren, standen vor den meisten Gebäuden noch Panzer. Überall flatterten albanische Fahnen und an jeder Ecke verkauften Männer diverse UCK-Memorabilia.
Das OSZE-Gebäude glich dem Turm zu Babel: Die Belegschaft rekrutierte sich aus den 55 Mitgliedsstaaten der OSZE. In den Büros und auf den Fluren versammelten sich die Mitarbeiter, diskutierten, tranken Kaffee und rauchten. Englisch ist die offizielle Arbeitssprache bei der OSZE. Doch hier hörte man verschiedenste europäische Sprachen – Deutsch, Französisch, Griechisch, Rumänisch, Spanisch, Russisch, Schwedisch usw. Denn die ’Internationals“ trafen sich meist nur mit Kollegen aus ihren Heimatländern. Die ’Locals’ im Gebäude, also hauptsächlich Kosovo-Albaner und ein paar Bosniaken und Serben, beäugten sich wiederum äußerst misstrauisch, zu viele Wunden hatte der jahrzehntelange Konflikt bei ihnen allen hinterlassen.
Ich war voller Idealismus und voller Vorfreude bezüglich meiner Aufgaben. Schließlich war ich ja als Journalistin in das Kosovo gekommen, um mitzuhelfen, ein Netz freier Medien wieder aufzubauen. Jeder Tag begann mit einem großen Meeting. Der Head of Mission und sämtliche Leiter der einzelnen Departments sprachen in aller Ausführlichkeit über Demokratisierung, Transparenz, Post-Conflict-Management, Aussöhnung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und natürlich über die ‚Rules & Regs’, über all die Regeln und Vorschriften, die den Alltag der OSZE-Mission ordnen sollten.
Erst nach einiger Zeit wurde mir klar, dass von all den noblen und hehren Absichtserklärungen auf inflationäre Art und Weise Gebrauch gemacht wurde. Sämtliche Begriffe verkamen zu Schlagwörtern und Slogans, die bald nur wenige in der Belegschaft ernst nahmen. Ihre Implementierung wurde zudem erschwert durch politische Anforderungen, persönliche Attitüden, Bürokratie, Faulheit, Desinteresse, Schlamperei und Inkompetenz. Darüber hinaus waren ja viele Projekte von Leuten in irgendwelchen europäischen Hauptstädten ersonnen worden, die absolut keine Ahnung davon hatten, wie die Realität vor Ort aussah. Viele dieser Maßnahmen waren schlicht absurd. Nach und nach wurde mir ebenso klar, dass viele meiner OSZE-Kollegen aus durchweg banalen Gründen im Kosovo waren: des Geldes wegen, um eine Scheidung zu bewältigen, um den eigenen CV aufzuhübschen oder gar um die Wochenenden im nahen Thessaloniki am schönen Mittelmeer zu verbringen. Die allerschlimmsten aber waren die folgenden zwei Gruppen: die naiven, unprofessionellen Weltverbesserer und jene, die ihr eigenes Leben bislang nicht auf die Reihe bekommen hatten, aber nun ein Department leiten sollten, oder schlimmer gar: ein Gemeinwesen oder einen zukünftigen Staat.
Fairerweise muss ich sagen, dass es natürlich auch Ausnahmen gab. Im Rahmen des Vertriebs von unabhängigen Zeitungen aus Belgrad in die serbischen Enklaven traf ich Plaka, ein Bosniake, der die letzten Jahre in Griechenland verbracht hatte, ein warmherziger Mensch mit einem großartigen Sinn für Humor. Ich nannte ihn den ’Zorba des Balkans‘`, ausgestattet mit gesundem Menschenverstand, Klugheit und guten Ideen. Mit Plaka war nichts unmöglich. Ohne seine Unterstützung hätte ich mehr als nur einmal meine Aufgaben in den serbischen Enklaven nicht erfüllen können und hätte schlicht versagt. Aber Plaka kannte jeden und jeder kannte Plaka.
Er hegte keinen Groll gegen irgendeine ethnische Gruppe und war bezüglich Klatsch und Tratsch immer auf dem neuesten Stand. Auch für ihn war das Leben im Kosovo nicht ungefährlich, denn als Bosniake war er zwar Moslem, seine Muttersprache jedoch das slawische Serbokroatisch. So war sein Leben stets in Gefahr, wenn er sich in seiner Muttersprache unterhielt. Der kosovarische Nationalismus war zu jener Zeit weit verbreitet und jeder, der sich öffentlich in einer slawischen Sprache unterhielt und dabei belauscht wurde, war im Prinzip so gut wie tot.
Während meiner Zeit bei der OSZE im Kosovo verlor ich meinen Idealismus bezüglich der Arbeit in internationalen Organisationen. Doch trotz allem denke ich, dass sich die viele Mühen auch lohnen könnten, wenn die Strukturen innerhalb der Mission, die Rekrutierung des Personals und die Projektausrichtung überarbeitet und reformiert werden würden. Die derzeitigen friedenserhaltenden Maßnahmen werden allerdings keiner Seite gerecht und rufen eher die schlechten Seiten im Menschen hervor – mit Ausnahmen, wie ich erwähnte. Gleichzeitig zu all den beruflichen Turbulenzen, lernte ich damals auch so etwas wie das ’Savoir Vivre à la Balkan’ kennen und arbeitete nach meiner Zeit im Kosovo noch weitere zwei Jahre in der OSZE Mission in Sarajewo.“